Die Fieberkurve der Erde steigt. Aus diesem Grund stand bei der diesjährigen Stadthausveranstaltung des unw am 15. Mai 2022 das Thema Gesundheit in Zeiten des Klimawandels im Mittelpunkt – live am Münsterplatz und auch online.
Hitzewellen und Starkregen. Die Erde macht vielerorts den Menschen zu schaffen. Schuld sind wir irgendwie alle. Oberbürgermeister Gunter Czisch betonte in seinem Grußwort, dass der Titel der Veranstaltung „Gesundheit – Leben im Klimawandel“ durchaus auch an die Eigenverantwortung der Menschen appelliere: „Es gibt einen Trend, der einen hohen Anspruch an den Staat und die Gemeinschaft formuliert, und der manchmal den Eindruck entstehen lässt, dass der eigene Beitrag etwas aus den Augen verloren geht.“
Zu wenig Verantwortung übernommen
Dr. Martin Müller, der Vorsitzende des Ulmer Initiativkreises nachhaltige Wirtschaftsentwicklung (unw), machte in seinem Vorwort klar: „Das Leben im Klimawandel wird real. Wir müssen uns entsprechend anpassen.“ Bei der diesjährigen Stadthausveranstaltung gehe es beileibe um kein abstraktes Thema, sondern mit der Gesundheit um einen sehr konkreten Bereich: „Wir sprechen heute nicht über Themen, die vielleicht in zwanzig Jahren akut werden, oder unsere Generation gar nicht mehr betreffen, sondern über den nächsten Sommer.“
Krank von Kopf bis Fuß
Hauptrednerin Prof. Dr. med. Claudia Traidl-Hoffmann zeigte in ihrem Vortrag auf, wie die Zerstörung der Natur die Gesundheit der Menschen beeinträchtigt. „Der Klimawandel ist jetzt und hier und wir müssen uns anpassen“, so die Leiterin der Umweltmedizin an der Universität Augsburg. Die Autorin des Buches „Überhitzt“ stellte unter anderem die fünf Kernaussagen zum Klimawandel in nur zwanzig Worten dar: Er ist real. Wir sind die Ursache. Er ist gefährlich. Die Fachleute sind sich einig. Wir können noch etwas tun: „Wichtig ist, dass die Punkte zwei und fünf unbedingt zusammenhängen.“ Nur in einer intakten Natur können die Menschen ein mentales Immunsystem entwickeln. Deshalb gelte es die für sie unfassbar schöne Natur zu erhalten. Die Angst, unsere Wurzeln, die Biodiversität zu verlieren, erzeuge Stress. Zwar stimme es, dass es Klimawandel schon immer gegeben habe, erschreckend sei die derzeitige Geschwindigkeit der Erwärmung: „Selbst wenn wir das 1,5 Grad Ziel erreichen, werden die ganz heißen Sommer, wie wir ihn zum Beispiel 2003 erlebt hatten, zukünftig wohl die „kühleren“ Perioden sein.“
Allergien-Tsunami
Claudia Traidl-Hoffmann: „Der Klimawandel macht uns krank – von Kopf bis Fuß.“ Er beeinträchtige Gehirn, Psyche, Herz- und Kreislaufsysteme und verursache vor allem auch gereizte Atemwege und entzündete Hauterkrankungen: „Wir wissen, dass Kinder, die in der Nähe von stark befahrenen Straßen leben, öfter an Neurodermitis erkranken. Denn Schadstoffe beschädigen die Barrieren der Haut.“ Die Folge ist einer regelrechter Allergien-Tsunami.
Neue Pollen
Ein weiterer Effekt des Klimawandels sei, dass es längere Flugphasen von Pollen gäbe, die zudem in neueren und auch aggressiveren Varianten unserem Immunsystem zu schaffen machen. „Auf ein weiteres Problem, die enorme Hitze, sind wir so gut wie nicht vorbereitet“, so die Referentin. Denn Hitzeschutzpläne gebe es in den Städten und Gemeinden so gut wie keine: „Hier ist Gefahr in Verzug.“ Denn immer mehr Menschen sterben an durch Hitze hervorgerufenen Kreislaufversagen. Und dies betreffe beileibe nicht nur die vulnerablen Gruppen.
Ein ernstes Problem seien zudem, so die Hautärztin, Erkrankungen, die durch Mücken oder Zecken übertragen werden. Die Zahl der Borreliose-Fälle steige stetig an. Zecken beißen nun schon früher im Jahr zu und übertragen Borrelien auf Mensch und Tier. Eine Impfung gegen diese im Darm der Zecken sitzenden Bakterien gebe es nicht.
Für Dr. Claudia Traidl-Hoffmann ist es höchste Zeit, aktiv zu werden: „Der Klimawandel muss die höchste Priorität haben. Wir brauchen eine Energiewende und Edukation. Wir müssen die Menschen darüber aufklären, was der Klimawandel bedeutet.“
Das wichtigste Wort ist Prävention
Gibt es in der Forschung Ergebnisse und medikamentöse Lösungen, um die genannten Krankheitsbilder zu lindern oder zu heilen, wollte Moderatorin Gabriele Renner, Vorstandsmitglied beim unw, bei der anschließenden Podiumsdiskussion wissen, die sie gemeinsam mit Dr. Michael Kühl leitete. Claudia Traidl-Hoffmann: „Es gibt in der Tat neue Arzneimittel gegen Allergien. Wir können zum Beispiel durch die spezifische Immuntherapie vielen Menschen immer besser helfen, doch beeinträchtigen die Effekte des Klimawandels und der Umweltverschmutzung die Gesundheit auf vielfältige Weise.“ Das wichtigste Wort sei an dieser Stelle Vorbeugung: „Wir müssen dafür sorgen, dass wir gesund leben und gesund altern. Doch gerade bei der Präventionsmedizin gibt es noch kaum Ansätze und so gut wie keine Unterstützung durch Forschung.“
Hitze ist das größte Problem
Dr. Michael Denkinger erläuterte in der Gesprächsrunde noch einen weiteren Punkt. „Wir dürfen nicht vergessen, dass unser Organismus nicht auf Hitze vorbereitet ist.“ Für den Ärztlichen Direktor an der Agaplesion Bethesa Klinik Ulm ist es wichtig, dass Medikamente bei Hitzeeinfluss auf den Prüfstand gestellt werden. Und Claudia Traidl-Hoffmann untermauerte: „Medizinisch gesehen ist die Hitze das größte Problem in Deutschland.“ Man dürfe nicht außer Acht lassen, dass im Jahr 2050 sieben von zehn Menschen in Städten leben werden, die dann noch einmal um zehn Grad heißer sein werden. Hier müsse die Städteplanung Ideen und Lösungen für die Zukunft entwickeln. Auch für Baubürgermeister Tim von Winning ist das eines der drängendsten Probleme: „Doch leider ist die Diskrepanz zwischen dem, was wir tun müssten und dem, was die Gesellschaft bereit ist, zu ändern, unendlich groß.“ Es gebe virulente Zielkonflikte zu beachten, die nicht aufzulösen seien. Bei jedem leerstehenden Grundstück in der Stadt stelle man sich im Rathaus die Frage, ob es bebaut oder doch begrünt werden solle. Doch dann zögen die Menschen, die in der Stadt leben möchten, eben auf das Land und fahren Tag für Tag mit dem Auto in die Stadt.
Dramatisch gescheitert
Tim von Winning gab zu, dass die Stadt im Bereich der Mobilitätsentwicklung bislang dramatisch und enttäuschend gescheitert sei: „Das was in den vergangenen zehn Jahre in Ulm am meisten gestiegen ist, ist die Anzahl der Autos.“ In Ulm arbeite man jedoch mit Hochdruck daran, den Schadstoffausstoß zu reduzieren und die Nutzung erneuerbarer Energien wie die Photovoltaik auszubauen: „Das geht leider alles nicht so schnell, wie wir uns das alle wünschen.“
Dennoch: Die Stadt des Jahres 2050 ist bis zu 95 Prozent bereits gebaut. Das bedeutet, dass es wichtig sei, die Energieeffizienz von Bestandsgebäuden zu steigern. Doch hierauf könne die Kommunalverwaltung kaum Einfluss nehmen. Der Baubürgermeister wünsche sich, dass die kognitive Dissonanz zwischen Erkenntnis und Umsetzung nun bald überwunden werde: „Dann schaffen wir es, aus dem, was wir alle wissen, auch Taten folgen zu lassen.“